[by Eima] Einer der wenigen, interessanten und erquickenden Fachbereiche der Linguisik ist die Soziolinguistik. Ein Tatbestand, über den sich nicht streiten lässt, immer vorausgesetzt, man ist nett, sympathisch und hinreißend wie ich, werter Leser, Ihre Eima Herzelein. Ich kann Ihnen versichern, dass nahezu alle Arbeitsbereiche der Linguistik furztrocken, fies und von einer Komplexität sind, dass sie in einer Liga spielen mit den menschenverachtenden und brechreizerregenden Abgründen der höheren Mathematik.
Böse Linguistik vs liebe Linguistik
Die Themen der Soziolinguistik hingegen sind aus dem Leben gegriffen. Die Soziolinguistik erforscht Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft und geht sprachlichen Phänomenen nach, die ihrerseits menschliche Beziehungen abbilden, psychologische Vorgänge aufdecken oder die kulturellen Aspekte eines Landes widerspiegeln. Eine der vielen zentralen Thesen der Soziolinguistik beschreibt die wechselseitige Wirkung von Sprache und Kultur. Die Sprache einer Sprachgruppe oder eines Landes reflektiert immer auch seine Kultur. Und seine Kultur reflektiert seine Sprache. Das alles klingt sehr theoretisch. Wenden wir dieses soziolinguistische Grundprinzip also einfach praktisch an. Auf die Niederlande zum Beispiel. Wozu in die Ferne schweifen, lieber Leser, liegt der Wahnsinn doch so nah.
Allgemeine Bedeutung und Funktion des Diminutivs
Das Diminutiv beschreibt die Verkleinerungsform von Substantiven und ist sprachlicher Bestandteil vieler Sprachen, so auch des Deutschen. Aus Hand wird Händchen, aus Engel Engelchen, aus Brot Brötchen. Grundsätzlich verkleinert das Dimintiv einen Gegenstand oder eine Person. So verweist das Suffix -chen oder -lein auf die kleine Größe eines Gegenstandes (Boot — Bötchen). Neben der einfachen Größe wird durch den Einsatz des Diminutivs auch liebevolle Zuneigung zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus fungiert das Diminutiv als Stilmittel, etwa, um Personen oder Dinge abzuwerten, indem man sie kleiner macht, als sie tatsächlich sind oder um das Ausmaß einer schwierigen Situation oder Sache durch Untertreibung rhetorisch hevorzuheben. So weit, so gut.
Das Diminutiv im Niederländischen
Eine interessante Wechselwirkung zwischen Sprache und Identität in Holland reflektiert die Verniedlichungsform (Diminutiv) im Niederländischen. Seit ich niederländisch verstehe und spreche, frage ich mich, ob es noch eine Sprache gibt, die derart durchdrungen ist von Diminutiven. Im gesprochenen Holländischen enthält — gefühlt — nahezu jeder Satz mindestens ein Diminutiv. Und jeder, absolut jeder, auch unheimlich große, starke, gutaussehende, sehr virile Männer haben fast jedes Wort ihrer Muttersprache unzählige Male in ihrem Leben verniedlicht. Viele Deutsche sind dann auch sehr verliebt ins Niederländische, beschreiben die Sprache als putzig und die Niederländer sowieso als hinreißend. Ich, Eima Herzelein, habe dem Braten vom ersten Moment an misstraut und kam zu einem anderen Schluss.
Das perfide Diminutiv
In den Augen vieler Deutsche ist der Niederländer unheimlich sympathisch, süß, tolerant, lieb, nett, fröhlich und alles in allem supertoll. Das stimmt alles. Und es stimmt auch alles nicht. Gleichzeitig. Ich werde hierzu noch schreiben, möchte aber heute das Bild der „Flauschigkeit“ korrigieren, die das Niederländische und damit auch seine Sprecher in den Augen Außenstehender umflort. Der Niederländer ist alles, aber nicht flauschig. Fakt ist, dass der Niederländer, insbesondere der Nordholländer in allem, was er tut, ungleich härter, heftiger und unbesorgter ist als der Deutsche.
Frauen in Holland radeln durch Wind und Wetter ohne mit der Wimper zu zucken, gehen alle 5 Jahre zur gynäkologischen Krebsvorsorge, lassen — in Deutschland undenkbar — bestimmte medizinische Untersuchungen ohne Narkose über sich ergehen und verlassen das Haus praktisch ungeschminkt. Sie sprechen Themen an, die in anderen Kulturen unansprechbar sind oder die Schamesröte ins Gesicht treiben, finden allgemein, dass man sich nicht so anstellen sollte und beschreiben den Geschlechtsakt zwischen zwei Menschen nahezu immer als „neuken“ — ein Wort so schrecklich und eindimensional, dass „ficken“ noch vergleichbar romantisch ist.
Über niederländische Männer, lieber Leser, kann ich nicht viel sagen, weil ich in einer festen, platonischen Beziehung mit meinem Eber bin. Das macht aber nichts. Der Text hier ist sowieso schon viel zu lang geworden. Kommen wir also zügig zum Ende.
Bierte, meisje, broodje: Weiche Haut, harter Kern
Meine Beobachtungen zur Funktion des niederländischen Diminutivs erheben keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Gleichzeitig bin ich von ihrer Richtigkeit überzeugt. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Härte niederländischer Gewohnheiten und Eigenschaften durch den überproportionalen Einsatz von Diminutiven abgemildert wird. Das glaube ich ganz ganz fest. Wie sonst soll sich die gleichzeitige Anwesenheit von Härte und Süße erklären lassen. Über die Form und den Einsatz niederländischer Diminutive wurde schon viel geschrieben. Interessierte finden mit dieser kleinen Formenlehre einen guten Überblick.
Über die tieferliegenden Funktionen jedoch habe ich noch nichts gefunden. Bestimmt gibt es hervorragende soziolinguistische Abhandlungen die der Frage nachgehen, warum ausgerechnet in Holland das Diminutiv so intensiv Verwendung findet. Ich sage es Ihnen kurz und bündig. Es gibt einen ganzen Haufen an Gründen.
- Der Niederländer liebt es, alles Schöne zu verniedlichen, weil es ‚gezellig‘ ist. Allein über die immense Relevanz von „gezelligheid“ als sozialer Stabilisator könnte man Bücher schreiben. Beispiel: ijsje, biertje, bootje, meisje …
- Der Niederländer braucht — ob bewusst oder unbewusst — eine Relativierung seiner Härte, die durch den Einsatz des Diminutivs sofort abgemildert wird. Beispiel: Jemand findet den Artikel eines Onlinemagazin hysterisch und bescheuert „Pilletje voor de contentmanager, iemand?“
- Der Niederländer hasst Konfrontationen. Tut sich trotz aller Ausweichmanöver doch ein Problem auf, wird es unter Einbindung vieler Diminutive in einem gezelligen Gespräch gelöst. Sachte, vorsichtig, nett. Und schnell.
- Der Niederländer würde sich lieber in einen asthmatischen Krampf husten, als seinem Unmut klar Ausdruck zu verleihen click resources. Deshalb ist man stolz auf allgegenwärtige Ironisierungen, die ihrerseits vom Diminutiv leben.
- Alles, das das Potenzial zum Konflikt hat, wird durch den Gebrauch des Diminutivs sofort entschärft. So wird beispielsweise aus Deutsch: „Schatz, wo Du gerade stehst, gibst Du mir die Autoschlüssen bitte?“ im Niederländischen „Schätzchen, gib mir doch mal schnellchen die Autoschlüsselchen.„
- Wie alle Menschen möchte auch der Niederländer geliebt werden. Ich erinnere mich an einen Kunden, der vorübergehend meine Aktivitäten von 2 auf 1 Tag die Woche kürzte. Auf die Frage warum, sagte er, dass es gerade Engpässe im Budget gebe: „Wij moeten eventjes iets op het remmetje trappen. Wij hebben de centjes eventjes niet.“ – „Wir müssen gerade etwas-chen auf das Bremschen drücken. Wir haben momentanchen das Geldchen nicht.“ Mit ganz, ganz lieber Stimme. Und direkt danach sagte er, dass das Sonnchen doch so schön scheine und ich die Zeit doch viel sinnvoller am Strandchen verbringen könne. Womit er vollkommen Recht hate. Gezellig! Wat een schatje!
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