Was ist Bildung? Eine Geschichte über meinen Vater, Totorino und den ebenso wunderbaren Antonio Gramsci
„Die größten Hornochsen, mein liebes Kind, habe ich an der Uni kennengelernt, merk‘ Dir das.„
[by Asisa] Dieser Satz meines Vaters hat mich im besten Sinne des Wortes geprägt. Er saß mir im Hinterkopf, als ich die Pforten der Alma Mater betrat, füllte sich mit Leben, während ich auf ihrem Schoß saß und wurde zu meiner eigenen Überzeugung, als sie mich nach Jahren aus ihren Armen entließ. Neben einigen wenigen feinen Menschen mit brillantem Verstand und kräftigem Rückgrat haben einige riesig große Hornochsen meinen Studienweg gestreift und manchmal auch gekreuzt.
Die Großartigkeit ihrer Hornochsigkeit ist wirklich einzigartig. Denn das, was sie zu noch größeren Idioten macht, als die Idioten jenseits akademischer Gefilde, ist ihr fester Glaube, besonders klug zu sein. In meiner Liste der abstoßendsten Menschen der Welt steht diese Spezies der ambitionierten Hohlbirne ganz weit oben.
Eines schönen Tages im Sommer 2004 spazierte ich mit meiner Freundin Renata durch Siniscola. Als wir zwischen ein paar Erledigungen einen Espresso tranken, erblickten wir zeitgleich einen eingerahmten Text hinter der Bar, der uns sofort in seinen Bann zog. Nachdem wir ihn in einem Zug inhaliert hatten, fragten wir, blitzartig von Glück erfüllt, den Barista nach dem Autor dieses wunderschönen Textes. Ich verstand seine Antwort nicht sofort, hörte aber, wie sein Erstaunen über unsere Frage durch die besondere Wärme gemildert wurde, mit der er den Namen „Gramsci“ aussprach. Mit so einem unsichtbaren Achselzucken, so einem stolzen und kristallklar sardischen.
Wham! Als wir nach Hause fuhren, beschlossen wir, sofort nach dem Text zu suchen, konnten ihn jedoch nicht sofort finden. Erst ein paar Wochen später wurde ich seiner habhaft und schickte ihn meiner Freundin, die sich riesig freute und ihn sofort auf die große Tafel neben dem Eingang ihres kleinen Hotels schrieb.
Der Cousin ihres Vaters, Totorino, gehörte übrigens zu einer Spezies, die mein Vater als diametralen Gegensatz des Hornochsen über alle Maßen liebte und verehrte. Er musste nichts sagen. Das Strahlen in seinen Augen und sein Lachen, wenn er ihn sah, sagte alles. Seine Liebe für ihn war Herz zerreißend schön.
Gemeinsam gingen sie auf die Jagd nach Wildschweinen, zogen nachts durch die sardischen Berge und flüchteten vor dem wild wütenden, unglücklich angeschossenen Tier auf einen Baum, wo sie bis zum Morgengrauen ausharrten, um uns abends ein köstliches Ragout zu präsentieren, das sie nach der Baumflucht in Dorgali gekauft hatten. Mein Vater, der erfolgreiche, sehr geschätzte und solide Arzt liebte seinen Totorino sehr. Der ernährte seine Familie mit seiner Arbeit als Schreiner, wenn er nüchtern war und begeisterte die Menschen als Bildhauer, wenn er betrunken war. Und Totorino liebte meinen Papa.
So süß sahen sie immer aus, wenn sie sich miteinander freuten. Totorino hatte ein langes Kinn, das er immer schief hielt, braune funkelnde Knopfaugen, schütteres schwarzes Haar, das immer durch die Gegend flog und ihm fehlte einer der vorderen Schneidezähne. Er gehörte zu diesen Menschen, die beim Sprechen immer ein bisschen zuviel Speichel im Mund haben und das als einzige nicht merken. Wann immer er betrunken war und mich sah, deutete mir ein bestimmtes verschmitztes Lächeln an, was er gleich sagen würde. Dass er seine schönste Tracht anziehen würde, wenn ich eines Tages heiraten würde, und dann für mich tanzen würde. Un ballo Sardo würde er tanzen, einen wunderschönen, richtigen sardischen Tanz, ganz allein für mich und meinen Bräutigam.
Dass es niemals dazu kommen sollte, hätte ich weder als Kind, noch als Jugendliche gedacht. Auch wenn ich ein bisschen müde wurde, wenn er mir zum 100. Mal erklärte, welche Tracht er tragen würde, war ich ganz tief in mir absolut sicher, dass er für mich tanzen würde, und ich konnte den Tag, die Gäste und meinen Bräutigam immer genau sehen. Dass es in meinem Leben niemals zu einer Hochzeit gekommen ist, verschmerze ich gut, nicht aber, dass Totorino eines Tages sehr krank wurde und einfach starb.
Als Totorino Spanu starb, weinte jeder, der ihn kannte und ihn kannten sehr, sehr viele Menschen. Er war „buono come il pane“ – herzensgut – und das sagt jeder bis heute auf Sardinien, der ihn kennenlernen durfte. Er war einer der ganz wenigen Freunde, die mein Vater jemals hatte. Ein absoluter Ausnahmemensch, den er in sein Herz ließ.
Ich bin mir ganz sicher, dass Gramsci keinen Repräsentanten hätte finden können, der seine Auffassung über den wahrhaft Gebildeteten besser verkörperte, als den Mann, den mein Vater bis heute schmerzlich vermisst.
Und hier ist er, dieser Text, der Totorinos Nichte und mich bis heute tief berührt. Endlich hab ich ihn übersetzt, diesen Text, der den Antitypus des Hornochsen auf weniger dramatische Weise erklärt, als mein Vater und ich das so gerne tun.
Bildung ist nicht der Besitz eines gut sortierten Lagers mit Informationen, sondern das Vermögen unseres Geistes, das Leben zu verstehen, den Platz zu kennen, den wir darin einnehmen und unsere Beziehungen zu den anderen Menschen zu begreifen. Bildung hat, wer Bewusstsein über sich und die Gesamtheit hat, wer die Verbindung zu allen anderen Wesen fühlt. Folglich kann jeder, der nur will, gebildet und ein Philosoph sein. Man muss nur wie ein Mensch leben, also versuchen, die Gründe der eigenen Handlungen und die der anderen zu verstehen, die Augen offen halten, neugierig auf alles und jeden, sich jeden Tag aufs Neue bemühen, jenes Gefüge noch besser zu verstehen, dessen wir Teile sind, das Leben durchdringen mit der ganzen Kraft unseres Bewusstseins, unserer Leidenschaft, unseres Begehrens, nicht einschlafen, niemals träge werden, sondern dem Leben seinen wahren Wert geben, indem man, falls erforderlich, bereit ist, es zu verteidigen oder zu opfern. Diese und keine andere Bedeutung hat Bildung.
Cultura non è possedere un magazzino ben fornito di notizie, ma è la capacità che la nostra mente ha di comprendere la vita, il posto che vi teniamo, i nostri rapporti con gli altri uomini. Ha cultura chi ha coscienza di sé e del tutto, chi sente la relazione con tutti gli altri esseri. Cosicché essere colto, essere filosofo lo può chiunque voglia. Basta vivere da uomini, cioè cercare di spiegare a se stessi il perché delle azioni proprie e altrui, tenere gli occhi aperti, curiosi su tutto e tutti, sforzarsi di capire ogni giorno di più l’organismo di cui siamo parte, penetrare la vita con tutte le nostre forze di consapevolezza, di passione, di volontà; non addormentarsi, non impigrire mai; dare alla vita il suo giusto valore in modo da essere pronti, secondo le necessità, a difenderla o a sacrificarla. La cultura non ha altro significato.
Gramsci, Antonio: Cultura e Socialismo, in «L’Ordine Nuovo», 1919. Deutsche Übersetzung Asisa Abu-Oun, April 2010.
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